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Berufseinstieg oder Bildungsaufstieg: Realschule in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen
Ein Beitrag von Zara Zerbe
Freie Autorin
Rock’n’Roll Realschule? Eher nicht – seit die meisten Bundesländer seit den Bildungsreformen der 2010er Jahre verstärkt auf integrative und gemeinschaftliche Schulformen setzen, sind die Schülerzahlen an den Realschulen rückläufig. Dennoch halten einige Bundesländer, neben Baden-Württemberg sind dies Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfahren, bewusst an der Realschule fest.
Hier soll den Schülerinnen und Schülern ein klar strukturierter, praxisnaher Bildungsgang mit mittlerem Schulabschluss ermöglicht werden, der sie genauso fit für das duale Ausbildungssystem wie für den Besuch einer Berufsfachschule oder eines Gymnasiums macht. Gerade vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen, wachsender Bildungsansprüche und dem zunehmenden Fachkräftemangel stellt sich die Frage: Wo kann die Realschule auch in Zukunft eine starke, eigenständige Schulform sein – und was braucht sie, um neben modernen Gesamtschulformen zu bestehen?
Bayern
Die bayerischen Realschulen genießen bundesweit einen guten Ruf. Sie gelten keineswegs als „zweite Wahl“ neben dem Gymnasium, sondern als eigenständiger leistungsorientierter Weg mit klaren Perspektiven. Im Schuljahr 2023/24 haben 216 284 Schülerinnen und Schüler eine der 375 Realschulen im Freistaat besucht. Die Realschule umfasst klassisch die Jahrgangsstufen 5 bis 10. Um den Schülerinnen und Schülern eine frühzeitige berufliche Orientierung zu bieten und sie gemäß ihrer Neigungen zu fördern, werden ab der 7. Klasse die sogenannten Wahlpflichtfächergruppen gewählt. Diese Differenzierung ist ein Alleinstellungsmerkmal der bayerischen Realschulen und umfasst in der Regel vier Profile: ein mathematisch-naturwissenschaftlich-technisches, ein wirtschaftliches, ein sprachliches und je nach Schule ein musisch-gestalterisches oder hauswirtschaftlich-soziales Profil. Dabei findet der Unterricht nach wie vor zu 80% im Klassenverband statt, es gibt jedoch unterschiedliche Profilfächer, wie z.B. Informatik, Betriebswirtschaftlehre/Rechnungswesen oder eine zweite Fremdsprache. In den Wahlpflichtfächergruppen bieten gute Grundlagen sowohl für eine Berufsausbildung nach dem Realschulabschluss als auch für den Besuch einer Beruflichen Oberschule – und zum Teil auch für die allgemeinbildende gymnasiale Oberstufe.
Hessen
Ähnlich wie in Bayern bieten die hessischen Realschulen einen praxisorientierten allgemeinen Bildungsweg in einem stabilen Lernumfeld. Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I, die kein Gymnasium besuchen, können ebenfalls auf eine Mittelstufenschule (einer Weiterentwicklung der kombinierten Haupt- und Realschule) oder eine Gesamtschule gehen. In Hessen gibt es den einfachen und den qualifizierenden Realschulabschluss, der für den Besuch einer Fachoberschule, eines beruflichen oder konventionellen Gymnasiums qualifiziert und den neben der Realschule auch die Gesamtschulen anbieten. In den Schülerzahlen hält sich bei diesen beiden Schulformen die Waage: In der Gesamtzahl der hessichen Schülerschaft machen sie beide jeweils knapp 10% aus. Wer mit dem zielorientierten Lernen im Klassenverband besser zurecht kommt als mit Unterricht im Kurssystem, ist an einer Realschule am besten aufgehoben. Ab Klasse 7 auch hier ein breites Wahlpflichtangebot, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Kenntnisse in dem Fach Arbeitsleere oder den übrigen Pflichtfächern verstärken oder eine zweite Fremdsprache lernen können. Der Fokus liegt fächerübergreifend in der beruflichen Orientierung, die durch Betriebserkundungen und Praktika ergänzt wird. Im wirtschaftlich starken Hessen bietet die Realschule damit eine wertvolle Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt – vor allem Industrie, Handwerk und Verwaltung bieten hier gute Möglichkeiten für den Berufseinstieg nach der 10. Klasse.
Niedersachsen
Ähnlich wie in Hessen ist das niedersächsische Schulsystem „dreigliedrig Plus“, das heißt, es gibt auch hier Gymnasium, Haupt- und Realschule sowie Integrierte und Kooperative Gesamtschulen. Eine weitere Sonderform ist seit dem Schuljahr 2011/12 die Oberschule, die Haupt- und Realschule sowie die gymnasiale Mittelstufe zu einer Schulform zusammenfasst. Eine eigenständige Realschule haben im Schuljahr 2023/24 nur 9% der Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen besucht. Die überwiegende Mehrheit der mittleren Bildungsabschlüsse werden dort mittlerweile an den Oberschulen abgelegt: Im Schuljahr 2022/23 haben dort 14.015 Schülerinnen und Schüler einen Realschulabschluss erworben, während es an den eigenständigen Realschulen nur 7.275 waren. Diese Diskrepanz lässt sich dadurch erklären, dass im Zuge der niedersächsischen Schulreform von 2010 bereits zahlreiche Haupt- und Realschulen zu einer Oberschule zusammengeführt wurden. Der Realschulzweig dieser Schulform unterscheidet sich inhaltlich kaum von den eigenständigen Realschulen. Ab der 6. Klasse können die Schülerinnen und Schüler zwischen einer zweiten Fremdsprache (4 Stunden) oder zwei Wahlpflichtkursen (je 2 Stunden pro Woche) wählen. In den Jahrgängen 9 und 10 bieten die Schulen im Wahlpflichtbereich mindestens eines der Profile Wirtschaft, Technik oder Gesundheit und Soziales an. Ab der 9. Klasse können die Schulen außerdem Differenzierungen mit Fachleistungskursen in Englisch und Mathematik anbieten. Ein Vorzug der Realschulen gegenüber den Oberschulen liegt vor allem in der beruflichen Orientierung: Hier sind in den Jahrgängen 8 bis 10 berufsorientierende Maßnahmen als Praxistage an mindestens 30 Tagen vorgeschrieben.
Nordrhein-Westfalen
In Nordrhein-Westfalen haben im Schuljahr 2023/24 insgesamt 198.836 Schülerinnen und Schüler eine eigenständige Realschule besucht. Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland hält zwar weiterhin an dem dreigliedrigen Bildungssystem fest, hat allerdings schon mit einem Schulversuch im Jahr 1969 die Gesamtschule eingeführt. Seit dem Schulkonsens im Jahr 2011, bei dem es um die Frage ging, wie trotz rückläufiger Schülerzahlen ein leistungsfähiges und ortsnahes Schulangebot aufrechterhalten werden könne, wurden zahlreiche Haupt- und Realschulen zu Sekundarschulen zusammengelegt, in denen auf gemeinsames Lernen in der Sekundarstufe I gesetzt wird. Dadurch ist die Zahl der Realschulen in NRW seit dem Schuljahr 2012/13 bis heute um 34,8 % zurückgegangen. Aktuell sind in dem Bundesland Gesamtschulen deutlich beliebter als Realschulen, da sie als die zeitgemäßere Schulform gelten und flexiblere Möglichkeiten für Bildungsabschlüsse bieten. Das verschafft den Realschulen einen entscheidenden Vorteil: durch die kleineren Schülerzahlen gelten die eigenständigen Realschulen dort als Schulen mit familiärer Atmosphäre, in denen soziale Bindungen und individuelle Förderung im Vordergrund stehen. Strukturell unterscheiden sich die nordrhein-westfälischen Realschulen nur in Details von den Realschulen in anderen Bundesländern. Der Wahlpflichtunterricht beginnt ab Klasse 7, wobei die Schülerinnen und Schüler zwischen einer zweiten Fremdsprache und mindestens zwei Fächern im naturwissenschaftlich-technischen Schwerpunkt (Physik, Chemie, Biologie,Technik, Informatik) im sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt (Sozialwissenschaften, Wirtschaft) sowie im musisch-künstlerischen Schwerpunkt wählen können. Nach der zentralen Abschlussprüfung in der 10. Klasse kann neben dem regulären Realschulabschluss auch der Mittlere Schulabschluss mit Qualifikationsvermerk erlangt werden, der zum Besuch einer gymnasialen Oberstufe berechtigt.
Fazit: Restschulform oder Chance auf lebensnahe Schulbildung?
Der Vergleich zeigt, dass die Realschule ihr größtes Ansehen gegenwärtig in Bayern genießt. Kein Wunder – dort steht sie nicht in Konkurrenz zu Gemeinschaftsschulen und bietet durch ihre Wahlfächergruppen eine solide allgemeine Schulbildung mit individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. In Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen ist deutlich zu erkennen, dass die Realschule als allein auf einen mittleren Bildungsabschluss ausgelegte Schulform Schwierigkeiten hat, sich gegen die Gesamtschulkonzepte in den jeweiligen Bundesländern durchzusetzen. In allen drei Bundesländern geht die Zahl der Neuanmeldungen an Realschulen start zurück, gleichzeitig werden zahlreiche Realschulen mit Hauptschulen in gemeinschaftliche Schulformen umgewandelt. Das hat nicht nur demographische Gründe, sondern hängt ebenso damit zusammen, dass das Ansehen des Abiturs gegenüber der Mittleren Reife in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen ist. In einer Umfrage im Rahmen der Shell Jugendstudie 2019 gaben 61% der befragten Jugendlichen an, die Allgemeine Hochschulreife anzustreben. Im Jahr 2002 lag dieser Wert noch bei etwa 49 %. In diesem Licht liegt es nahe, sein Kind auf eine weiterführende Schule zu schicken, auf der es die Möglichkeit hat, diesen Abschluss zu erlangen – wenn das Gymnasium in der Sekundarstufe I nicht ohnehin die Schule der Wahl ist, dann wird es die tendenziell die Gemeinschaftsschule. Obwohl der erweiterte bzw. qualifizierende Mittlere Bildungsabschluss von einer konventionellen Realschule genauso zum Besuch einer gymnasialen Oberstufe berechtigt, bieten Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe den Vorteil, dass die Schülerinnen und Schüler nach der 10. Klasse weiterhin in ihrem gewohnten schulischen Umfeld lernen können.
Auch hinsichtlich der Binnendifferenzierung für unterschiedliche Leistungsniveaus, die an Gemeinschaftsschulen Standard sind und den Herausforderungen, die die Pubertät mit sich bringt, besser entgegenkommen, gewinnt man schnell den Eindruck, dass Gemeinschaftsschulen die zeitgemäßere Schulform für die Sekundarstufe 1 sind. Hier könnten die Realschulen in den anderen Bundesländern etwas von dem baden-württembergischen lernen, in denen binnendifferenzierter Unterricht obligatorisch (und nicht optional nach Schulgröße wie in Niedersachsen) ist.
Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels gibt es einiges Potenzial, die Realschule zu stärken und neben den integrativen Schulformen zu profilieren: Die allgemeinbildende Schulform mit praxisnahem Schwerpunkt kann durch einen klaren Schwerpunkt auf berufliche Orientierung gut vorbereitete Schulabgängerinnen und -Abgänger in Handwerk, Technik, Verwaltung und Pflege bringen – also genau dorthin, wo unsere Gesellschaft sie aktuell am dringendsten braucht.
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In der SiB-Serie „Ländervergleich“ der Kieler Autorin Zara Zerbe sind neben dem aktuellen Blick auf die Realschulen bereits in vorherigen Ausgaben Grundschulen und Gesamtschul-Konzepte beleuchtet worden.
Kurze Beine, kurze Wege
Grundschulen in BY, HE, RP, TH
Gemeinsam im Norden
Gesamtschulen in HB, HH, MV, SH
Zur Autorin
Zara Zerbe hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt und arbeitet als freie Autorin in Kiel. Dort ist sie Mitherausgeberin des Literaturmagazins „der Schnipsel“ und hostet den Podcast „Literarisch, Solidarisch“ mit Hatice Açıkgöz und Dara Brexendorf. Sie arbeitet zu Umwelt-, Bildungs- und Zukunftsthemen sowie zu sozialer Gerechtigkeit. 2024 ist ihr Debütroman „Phytopia Plus“ im Verbrecher Verlag erschienen. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar.