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Ein Blick auf die Grundschulen in Deutschland – Ländervergleich

Ein Beitrag von Zara Zerbe, Freie Autorin

Mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen: In der Grundschule werden Kinder nicht nur an schulische Lern- und Arbeitsformen herangeführt. Ästhetische, kulturelle, sportliche sowie religiöse Themen sind genauso Teil des Unterrichts wie Diktate und das kleine Einmaleins. In den ersten vier Schuljahren lernen Kinder, die Welt zu entdecken und sich Wissen anzueignen.

Dank der Einführung von Ganztagsangeboten ist die Grundschule noch einmal mehr zu einem sozialen Raum für Begegnung und Auseinandersetzung geworden. Das Besondere an der Schulform ist, dass hier Kinder mit individuellen, unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsständen zusammen lernen. Erst nach der vierten Klasse (bzw. sechsten Klasse in Berlin und Brandenburg) trennen sich die Wege in Richtung weiterführender Schulen. Eine Studie der Universität Potsdam hat gezeigt, dass gemeinsames Lernen den sozialen Zusammenhalt stärkt und die Lust am Lernen fördert. Gleichwohl bringt diese Schulform Herausforderungen mit sich: Kinder mit individuellen Voraussetzungen sollen – Stichwort Bildungsgerechtigkeit – bedarfsgerechte Förderung bekommen. Der Übergang zur weiterführenden Schule will sinnvoll gestaltet werden, am besten mit sorgfältig konzipierten Ganztagsangeboten. Doch hierfür fehlen laut GEW bis 2030 bundesweit über 110.000 Lehrkräfte. Wie gehen die Grundschulen in unseren benachbarten Bundesländern mit diesen Herausforderungen um? Ein Überblick.

Hessen: Erfolgsmodell Sprach­förderung

Im Schuljahr 2024/25 wurden in Hessen rund 60.400 Erstklässlerinnen und Erstklässler eingeschult, die sich auf 1.197 Grundschulen verteilen. Das Bildungssystem in Hessen bietet mehrere Ansätze, um flexibel auf die unterschiedlichen Lernausgangslagen von Kindern im Grundschulalter einzugehen. So gibt es beispielsweise den Flexiblen Schulanfang: Dabei bilden die erste und die zweite Klasse eine pädagogische Einheit. Alle Kinder im schulpflichtigen Alter werden aufgenommen und in altersgemischten Gruppen unterrichtet. Ein Team aus Lehrkräften und Sozialpädagogen begleitet die Kinder individuell und in Lerngruppen, die auf ihr Lern- und Leistungsvermögen zugeschnitten sind. So haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die zusammengefassten Jahrgangsstufen 1 und 2 auch in einem, zwei oder drei Schuljahren zu durchlaufen. Dieses Konzept wird bereits an zahlreichen Grundschulen angewendet.

Weniger verbreitet ist die Eingangsstufe, die nur an rund 50 Grundschulen zum Einsatz kommt. Fünfjährige Kinder durchlaufen hier das erste Schuljahr in zwei Jahren und werden an das Lernen und Arbeiten in der Grundschule herangeführt. Danach können sie regulär die Klassen 2 bis 4 besuchen, sodass ihre Grundschulzeit insgesamt fünf Jahre andauert.

Hessen hat außerdem eine Vorreiterrolle in der Sprachförderung. Schon 2002 wurden Vorlaufkurse eingeführt, in denen Kinder mit ausländischer Muttersprache in ihrer Zweitsprache Deutsch für den Schulbeginn fit gemacht werden. Seit 2020 sind diese Vorlaufkurse verpflichtend – als einziges anderes Bundesland hat sie Hamburg im Schulgesetz verankert. Im Jahr 2023 haben 17.000 hessische Erstklässler einen Vorlaufkurs zur Deutschförderung besucht.

Rheinland-Pfalz: Sozialarbeit und innovative Konzepte

In Baden-Württembergs kleinstem Nachbarland gibt es 926 Grundschulen, die zum Schuljahr 2024/25 rund 41.000 neue Erstklässlerinnen und Erstklässler aufgenommen haben. Nach der PISA-Studie im Jahr 2022, in der die deutsche Schülerschaft im internationalen Vergleich das bislang schlechteste Ergebnis erzielte, wurden in Rheinland-Pfalz zum aktuellen Schuljahr zahlreiche Neuerungen eingeführt. Im Grundschulbereich reagiert das Bundesland vor allem mit Sprachkompetenz- und Leseförderung: Neben mehr Deutschunterricht in der zweiten Klasse und einer täglich verpflichtenden Lesezeit setzt man fortan auf eine frühere Schulanmeldung. So soll rechtzeitig vor Beginn der Schullaufbahn auf Defizite in der Sprachentwicklung reagiert werden.

Die Bildungsgerechtigkeit will Rheinland-Pfalz durch den Ausbau der Schulsozialarbeit erhöhen. Mit den Familiengrundschulzentren soll über Freizeit- und Beratungsangebote der Kontakt zu den Eltern gestärkt werden – diese hätten laut Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) vor allem in sozialen Brennpunkten eine gewisse Scheu, mit den Lehrkräften ihrer Kinder ins Gespräch zu kommen. Besonders innovativ zeigt sich das rheinland-pfälzische Schulwesen außerdem mit „Schule der Zukunft“: In diesem Programm entwerfen die teilnehmenden Schulen mit den Schülerinnen und Schülern zusammen ihr Schulkonzept für die Zukunft. Die Schwerpunkte liegen neben Nachhaltigkeit und Digitalisierung auf der partizipativen Entwicklung von individualisierten, fach- und jahrgangsübergreifenden Lernkonzepten. An dem Programm sind aktuell 20 Grundschulen beteiligt.

Bayern: Leistungsdruck und Übertritts­zeugnis

Das bayerische Schulsystem steht in dem Ruf, seinen Schülerinnen und Schülern mehr abzuverlangen als in anderen Bundesländern üblich. Das gilt auch für die rund 1,72 Millionen Erstklässler, die in diesem Schuljahr an 2.418 Grundschulen im Freistaat aufgenommen wurden. Zwar gibt es auch im Freistaat progressive Schulkonzepte wie die Flexible Grundschule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht in Jahrgang 1 und 2. Zum Ende der vierten Klasse erhalten die Schüler dennoch das Übertrittszeugnis, landläufig bekannt als das „Grundschulabitur“.

Hier entscheidet der Notendurchschnitt in den Fächern Mathematik, Deutsch und Heimat- und Sachunterricht (HSU) darüber, ob das Kind aufs Gymnasium (mit einem Schnitt von 2,33 oder besser), auf die Realschule (bis 2,66) oder auf die Mittelschule kommt. Eltern haben wenig Mitspracherecht – viele Eltern- und Lehrervertreter kritisieren den Leistungsdruck, der hinter dieser verbindlichen Schulempfehlung steckt.

Es bleibt abzusehen, wie sich die nach der letzten PISA-Studie eingeführte neue Stundentafel auf die Lese- und Rechenkompetenzen der bayerischen Schülerinnen und Schüler auswirkt. Zum aktuellen Schuljahr wurden die Wochenstunden für Deutsch und Mathe in der Grundschule erhöht – allerdings zulasten des künstlerisch-musischen Fachbereichs.

Auf die Bildungsgerechtigkeit hat die sehr leistungsorientierte Grundschule in Bayern keinen positiven Effekt. In einer aktuellen ifo-Studie zu ungleichen Bildungschancen in Deutschland bildet der Freistaat das Schlusslicht – der Analyse zufolge hängt dort im bundesweiten Vergleich die erfolgreiche Schulbildung am stärksten vom sozioökonomischen Status des Elternhauses ab. Das Startchancen-Programm, das gezielt die Unterrichtsentwicklung an Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler unterstützt, ist zumindest ein Ansatz, um die Bildungsgerechtigkeit im Freistaat zu verbessern – allerdings startet es erst im Schuljahr 2024/25 mit 59 beteiligten Grundschulen.

Thüringen: Individuelle und gemeinsame Ziele

Zum Schluss ein Blick in eines der neuen Bundesländer: In Thüringen haben in diesem Schuljahr etwa 19.300 Erstklässlerinnen und Erstklässler ihre Schullaufbahn gestartet – allerdings nicht zwingend auf einer der 419 Grundschulen, denn dort gibt es ebenso die Gemeinschaftsschule, welche die Jahrgangsstufen 1 bis 12 umfasst und den Kindern ein gemeinsames Lernen mindestens bis zur achten Klasse ermöglicht. Die Wahl der Schulform obliegt den Eltern, vorausgesetzt, es gibt beide Schulformen vor Ort – was in einem Bundesland mit einer Bevölkerungsdichte von 131 Einwohnern pro km² selten der Fall ist.

Seit 2019 sind im thüringischen Schulgesetz Mindestklassengrößen für alle Schulformen festgelegt: 15 Schülerinnen und Schüler in der Primarstufe, an Regelschulen und Gymnasien mindestens 20 pro Jahrgang. Wird dieser Wert unterschritten, müssen Grund- und Regelschulen zu Gemeinschaftsschulen zusammengelegt werden.

Nach einer Bevölkerungsbefragung der Friedrich-Ebert-Stiftung bevorzugt die thüringische Bevölkerung das Modell des längeren gemeinsamen Lernens: Nur 13 % der Befragten gaben an, ihr Kind auf eine herkömmliche Grundschule schicken zu wollen. Insgesamt unterscheiden sich in Thüringen die Klassen 1 bis 4 an Grund- und Gemeinschaftsschulen nicht allzu stark voneinander: Schulen beider Formen können darüber entscheiden, ob sie eine Flexible Schuleingangsphase über 1–3 Schuljahre anbieten. Ganztagsangebote und Schulhorte gibt es sowohl an Grund- als auch an Gemeinschaftsschulen. Fachspezifische Schulprofile, wie zum Beispiel das SINUS-Programm zur Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts, sind auf beide Schulformen ausgelegt.

Von dem eklatanten Lehrermangel in Thüringen sind Grund- und Regelschulen gleichermaßen betroffen: Im Schuljahr 2024/25 sind laut Bildungsministerium insgesamt rund 1.000 Stellen unbesetzt.

Herausforderungen und Chancen

Die Grundschule in Deutschland steht vor der anspruchsvollen Aufgabe, Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen auf eine weiterführende Schullaufbahn vorzubereiten. Gleichzeitig bietet sie einen Raum für soziales Lernen und persönliche Entwicklung. Die Bundesländer verfolgen dabei unterschiedliche Ansätze, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern und auf die Herausforderungen durch Lehrkräftemangel und wachsende Anforderungen zu reagieren.

Während Hessen mit flexiblen Schuleingangsphasen und Sprachförderung gezielt auf individuelle Bedürfnisse eingeht, setzt Rheinland-Pfalz verstärkt auf Sprach- und Lesekompetenzförderung sowie die Einbindung der Eltern. Bayern zeigt sich traditionell leistungsorientiert, hat jedoch Schwierigkeiten, die Bildungschancen unabhängig vom sozioökonomischen Status zu gestalten. Thüringen punktet mit dem Modell des längeren gemeinsamen Lernens, kämpft jedoch mit strukturellen Problemen wie Lehrermangel und den Auswirkungen sinkender Schülerzahlen.
Trotz regionaler Unterschiede zeigt sich, dass Investitionen in flexible Unterrichtskonzepte, Ganztagsangebote und innovative Programme unerlässlich sind, um die Grundschule als Ort für Bildung und soziale Teilhabe zu stärken. Doch ohne ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bleiben diese Ansätze in ihrer Wirksamkeit begrenzt.
Trotz regionaler Unterschiede zeigt sich, dass Investitionen in flexible Unterrichtskonzepte, Ganztagsangebote und innovative Programme unerlässlich sind, um die Grundschule als Ort für Bildung und soziale Teilhabe zu stärken. Doch ohne ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bleiben diese Ansätze in ihrer Wirksamkeit begrenzt.