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Gesamtschulkonzepte zwischen Weser und Oder
Ein Beitrag von Zara Zerbe
Freie Autorin
Die Norddeutschen schätzen Pragmatismus – eine Haltung, die sich auch in den Schulsystemen von Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern widerspiegelt. Alle vier Bundesländer haben ein zweigliedriges Schulsystem etabliert, das sich aus Gymnasium und einer Variante der Gesamtschule zusammensetzt – allesamt Ergebnisse von Schulreformen, die als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse der PISA-Studie 2003 umgesetzt wurden. Das Konzept hat der Norden von den neuen Bundesländern übernommen, die damit seit der Wende erstaunlich gute PISA-Ergebnisse im innerdeutschen Vergleich erzielt haben.
Die Idee hinter der Gesamtschule verspricht ein durchlässiges Bildungssystem, das den Schülerinnen und Schülern im Optimalfall alle gängigen allgemeinbildenden Schulabschlüsse ermöglicht, ohne den Ausgang der Schullaufbahn direkt in der 5. oder 6. Klasse festzuschreiben. Daneben soll die Schulform zur besseren sozialen Integration in den jeweiligen Einzugsgebieten beitragen. Wie die Länder dieses Schulkonzept umsetzen, wie es seit der Reform angenommen wird und welche Effekte es auf die Bildungsgerechtigkeit hat, zeigt der folgende Überblick.
Bremen: Oberschulen mit viel Zulauf
In Bremen und Bremerhaven stehen Eltern seit 2010 vor der Entscheidung, ob sie ihr Kind nach der Grundschule auf ein Gymnasium oder auf eine Oberschule schicken. Diese erfreuen sich großer Popularität: Von den 1096 Schülerinnen und Schülern, die im Schuljahr 2023/24 auf eine weiterführende Schule gewechselt sind, gehen 971 auf eine der 34 Oberschulen in der Hansestadt.
Um das Unterrichtsangebot auf unterschiedliche Lerntypen auszurichten, findet der Unterricht ab der 7. Klasse in den Hauptfächern auf zwei Anforderungsniveaus statt. Ab der 6. Klasse können die Schülerinnen und Schüler ihren Lerninteressen in Wahlpflichtkursen nachgehen, die z.B. aus sportlichen, sprachlichen, musischen, naturwissenschaftlichen oder berufsorientierenden Angeboten bestehen.
Am Ende der 10. Klasse können zwei Abschlüsse erworben werden: Die Erweiterte Berufsbildungsreife (entspricht dem Erweiterten Hauptschulabschluss) und ebenso der Mittlere Schulabschluss (entspricht dem Realschulabschluss). Anders als an den Bremer Gymnasien führen die Oberschulen nach 13 Jahren zur Allgemeinen Hochschulreife, können den Schülerinnen und Schülern allerdings die Möglichkeit bieten, die Abiturprüfung schon nach 12 Schuljahren abzulegen. In diesem Fall bekommen sie in den Jahrgängen 7 bis 9 zusätzlichen Unterricht in den Fächern Deutsch, Fremdsprache, Naturwissenschaften, Politik und Gesellschaft sowie Mathematik und beginnen bereits nach der 9. Jahrgangsstufe mit der Oberstufe.
In der Mittelstufe werden die Klassen von einem Jahrgangsteam betreut. Dieses Team setzt sich aus einer festen Gruppe von Lehrkräften zusammen, die den Jahrgang gemeinsam von der 5. bis zum Ende der 10. Klasse betreuen. Ihre Aufgabe ist es, die Unterrichtsgestaltung, die Differenzierung der Leistungsniveaus und die individuelle Förderung in ihrer Kohorte zu koordinieren. Diese sorgfältige pädagogische Begleitung ermöglicht es, dem Inklusionsanspruch gerecht zu werden, der im Bremer Schulgesetzt fest verankert ist. Dies besagt, dass jede Klasse an einer allgemeinbildenden Schule fünf Plätze für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorhalten muss. Die Weserstadt hat mit 0,8 % die niedrigste Exklusionsquote in der Bundesrepublik – dies entsprich dem Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in einer Förderschule beschult werden.
2018 hat der GEW Bremen eine flächendeckende Evaluation an Bremer Oberschulen durchgeführt. Dabei hat sich vor allem ein Pluspunkt herausgestellt: Das gemeinsame Lernen mit individuellen Fördermöglichkeiten kann vorübergehende Leistungsschwankungen auffangen und Schulwechsel verhindern, was Jugendlichen in turbulenten Entwicklungsphasen ein stabiles schulisches Umfeld ermöglicht. Die soziale Integration hingegen, zu der die Oberschulen in den jeweiligen Stadtteilen beitragen sollten, konnte sich in der Anfangsphase nicht verbessern. Eltern mit hohem sozioökonomischem Status schicken ihre Kinder in überwiegender Zahl auf ein Gymnasium, und vor allem Oberschulen ohne gymnasiale Oberstufe werden von bildungsnäheren Familien in der Regel gemieden. Darüber hinaus mangelt es laut der Evaluation vor allem an Geld, um die eigentlich sehr schülerfreundlichen Ideen der Oberschule adäquat umzusetzen.
Hamburg: Stadtteilschulen mit Inklusionsdruck
Hamburg hat zeitgleich mit Bremen sein dreigliedriges Schulsystem abgeschafft. Seitdem gehen die Schülerinnen und Schüler in der Hansestadt nach der Grundschule entweder auf ein Gymnasium oder eine der Stadtteilschulen. Genau wie an der Oberschule in Bremen können an dieser Schulform alle allgemeinbildenden Abschlüsse erlangt werden: Den Ersten Bildungsabschluss (ESA, vergleichbar mit dem Hauptschulabschluss) nach der 9., den Mittleren Bildungsabschluss (MSA, entspricht dem Realschulabschluss) nach der 10. sowie dem Abitur nach der 13. Klasse. Eine Hybridform sind die sogenannten Campus-Stadtteilschulen. Dort gibt es sowohl gymnasiale Klassen mit einem entsprechenden Stundenplan, die nach acht Jahren zum Abitur führen, als auch Stadtteilschulklassen mit dem Stundenplan der Stadtteilschulen und dem Abitur nach neun Jahren. Die Stadtteilschulen haben seit der Reform allerdings deutlich weniger Zulauf als ihr Bremer Pendant: Von den Schülerinnen und Schülern, die im Schuljahr 2023/24 auf eine weiterführende Schule wechselten, wurden nur 53 % an einer Stadtteilschule und 47 % an einem Gymnasium angemeldet. Ähnlich wie in Bremen hat sich die soziale Diversität an den Hamburger Schulen seit der Reform nicht verbessert. Während 28,4 % der Gymnasiasten aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status kommen, sind es an den Stadtteilschulen lediglich 10,4 %. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler aus dem sozioökonomischen Mittelfeld ist allerdings an beiden Schulen etwa gleich hoch – an Stadtteilschulen sind es 57,9 % und an Gymnasien 57,4 %. Für die Stadtteilschulen, die wie die allermeisten Gesamtschulkonzepte die Chancengleichheit des Bildungssystems verbessern sollen, gibt es eine besondere Herausforderung: Nach der 6. Klasse, wenn die Beobachtungsstufe auf den Hamburger Gymnasien endet, müssen die Schülerinnen und Schüler, deren Leistungen für die Schulform nicht ausreichen, auf eine Stadtteilschule wechseln. Die Stadtteilschulen müssen dadurch in jedem Schuljahr neue Kinder auffangen, deren Lernmotivation durch zwei Jahre schulischer Misserfolge mitunter angeschlagen ist. Dies hat in den vergangenen Jahren meist nur 700 bis 800 Schülerinnen und Schüler betroffen. Im Hinblick auf die Tatsache, dass die Stadtteilschulen in der Regel ebenfalls für die Integration fast aller schulpflichtigen Geflüchteten und aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf verantwortlich sind, muss diese Schulform hinsichtlich Inklusion deutlich mehr leisten als die Gymnasien. Trotz dieser Herausforderung zeigt sich hier, dass ein zweigliedriges Bildungssystem sehr erfolgreich sein kann, wenn es gut finanziert ist: Im Jahr 2020 hat Hamburg 12.600 € pro Schüler in seine öffentlichen allgemeinbildenden Schulen investiert (zum Vergleich: In Baden-Württemberg lag diese Zahl bei 8.800 €). Im IQB-Bildungstrend verzeichnet es damit die steilste Entwicklungskurve aller Bundesländer und ist dort mittlerweile in die Spitzengruppe aufgestiegen.
Mecklenburg-Vorpommern: Komplex zweigliedrig
Seit 2006 hat Mecklenburg-Vorpommern ein zweigliedriges System für seine weiterführenden Schulen, was in diesem Fall allerdings bedeutet: Es gibt Gymnasien sowie die sogenannten „Schularten mit mehreren Bildungsgängen“. Hinter letzteren verbirgt sich in der Regel eine Regionale Schule, eine integrierte oder eine kooperative Gesamt-schule. Die Regionale Schule deckt in der Regel nur die Sekundarstufe I ab, hat einen Schwerpunkt auf berufsvorbereitendem und praxisorientiertem Unterricht und ermöglicht die Berufsreife nach der 9. und die Mittlere Reife nach der 10. Klasse. An der Integrierten Gesamtschule findet gemeinsames Lernen mit einer Differenzierung in den Hauptfächern ab der 7. Klasse statt und es können alle allgemeinbildenden Schulabschlüsse erreicht werden. Kooperative Gesamtschulen sind eigentlich zusammengelegte Gymnasien und Regionale Schulen. Dort gibt es separate Gymnasial- und Regionalschulklassen, wobei in Letzteren ebenfalls eine Differenzierung in den Hauptfächern ab Jahrgang 7 stattfindet. Außerdem können Schülerinnen und Schüler an kooperativen Gesamtschulen bei entsprechender Leistung unkompliziert in eine Gymnasialklasse wechseln.
Die Besonderheit im Mecklenburg-Vorpommerns Bildungssystem ist die Schulartunabhängige Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6. Hier werden alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet, nach individuellen Begabungen gefördert und müssen die endgültige Entscheidung über ihre Schullaufbahn nicht schon nach der Grundschule treffen. Die Orientierungsstufe ist meist in Regionale Schulen oder Gesamtschulen integriert. In dem dünn besiedelten Bundesland – in Mecklenburg-Vorpommern beträgt die Bevölkerungsdichte etwa 69 Einwohner pro Quadratkilometer – können durch diese Konstellation mehr Schulen erhalten bleiben. Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse haben dadurch bessere Möglichkeiten, eine Schule in der Nähe ihres Wohnortes zu besuchen.
Im Schuljahr 2023/24 besuchten 50.455 Schülerinnen und Schüler eine Schulart mit mehreren Bildungsgängen in Mecklenburg-Vorpommern, während 19.040 auf ein Gymnasium gingen. Daraus lässt sich schließen, dass das gemeinsame Lernen mit individuellen Fördermöglichkeiten zu einer sichtbaren Verbesserung der Bildungschancen geführt hat: Obwohl die wenigen Gymnasien im ländlichen Raum schwer zu erreichen sind, ist seit der Einführung des zweigliedrigen Bildungssystems der Anteil der Schulabsolventinnen mit allgemeiner Hochschulreife von 31,7 % um sechs Prozentpunkte angestiegen und bewegt sich seit 2012 stetig zwischen 38 und 41 %. Die Gesamtschulen gleichen damit für ihre Schülerinnen und Schüler ebenso regionale wie strukturelle Nachteile aus.
Schleswig-Holstein: Gemeinschaftlich praxisorientiert
Schleswig-Holstein fährt nach einer umfassenden Neustrukturierung seines Bildungssystems ebenfalls zweigleisig. Nach der Grundschule gibt es seit dem Schuljahr 2007/2008 die Wahl zwischen Gymnasium und Gemeinschaftsschule. Gesamtschultypisch gibt es dort gemeinsames Lernen in der 5. und 6. Klasse sowie leistungsgerechte Differenzierungsangebote ab Jahrgang 7. An allen 181 Gemeinschaftsschulen können die Abschlüsse ESA (nach der 9. Klasse) und MSA (nach der 10. Klasse) erlangt werden. 44 Gemeinschaftsschulen bieten zusätzlich eine gymnasiale Oberstufe an, die nach dem 13. Schuljahr zum Abitur führt.
An einigen Gemeinschaftsschulen im Land gibt es das Angebot des Produktiven Lernens. In der 8. und 9. Klasse können sich Schülerinnen und Schüler zum Erreichen des ESA ein selbstbestimmtes, praxisorientiertes Lernangebot suchen. Um ihre Praxiserfahrungen dabei bestmöglich mit ihrem schulischen Lernen zu verbinden, werden sie von Lernbegleitern unterstützt und beraten. Das Modellprojekt, das mittlerweile als reguläres Bildungsangebot besteht, erleichtert für die teilnehmenden Schüler den Einstieg in den Arbeitsmarkt: 80 % derjenigen, die nach ihrem ESA in eine Berufsausbildung starteten, fanden ihren Ausbildungsplatz an ehemaligen Praxislernorten.
Insgesamt haben die Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein einen ähnlichen Zulauf wie in Hamburg. Auch hier liegt die Verteilung der Anmeldung nach der Grundschule bei 53 % an Gemeinschaftsschulen und 47 % an Gymnasien. Insgesamt besuchten rund 97.100 Schülerinnen und Schüler eine der Gemeinschaftsschulen. In der aktuellen Studie des ifo-Instituts zur Bildungsgerechtigkeit in Deutschland belegte Schleswig-Holstein den 13. Platz. Der Besuch eines Gymnasiums oder einer gymnasialen Oberstufe hängt dort noch immer vom sozioökonomischen Status des Elternhauses ab. Dabei soll das Förderprogramm PerspektivSchule Kurs 2034 Abhilfe schaffen – ab 2024 werden mit Geldern aus dem Startchancen-Programm des Bundes 135 Schulen in soziokulturell herausfordernden Umfeldern besonders gefördert.
Bildungsvielfalt und strukturelle Unterschiede im Norden
Das zweigliedrige Schulsystem in den norddeutschen Bundesländern spiegelt den pragmatischen Ansatz der Region wider und hat seit seiner Einführung die Bildungslandschaft erkennbar verändert. Mit der Entscheidung für Gymnasien oder Gesamtschulvarianten wie Oberschulen, Stadtteilschulen oder Gemeinschaftsschulen zielen Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern darauf ab, Bildungsgerechtigkeit und soziale Integration zu fördern. Dies wird in allen vier Bundesländern durch ein längeres gemeinsames Lernen mit Binnendifferenzierung in einigen Fächern und eine spätere Entscheidung über die Bildungswege ermöglicht. Daneben sind die Gesamtschulkonzepte in Regionen mit geringer Einwohnerdichte, die man nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch an Schleswig-Holsteins Westküste findet, eine pragmatische Lösung, um Schulstandorte erhalten zu können. Vor allem in Mecklenburg-Vorpommern ist zu erkennen, dass über die Schullaufbahn im schlechtesten Fall nicht nur die soziale, sondern auch die regionale Herkunft entscheidet. Gesamtschulen mit Entfaltungsmöglichkeiten für alle Lern- und Neigungstypen und Optionen auf alle allgemeinbildenden Schulabschlüsse können dem produktiv entgegenwirken. Fortschritte wie steigende Abiturquoten oder niedrigere Exklusionsquoten sind messbare Erfolge dieser Schulform. Im Hinblick auf die soziale Integration, die an Gesamtschulen ebenfalls stattfinden soll, ist jedoch vor allem in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein noch einiges Potential offen. Vor allem Bremen, dessen Wirtschaftsleistung zwar von 2021 auf 2022 um 5,1 % gewachsen ist, gleichzeitig jedoch mit 28,8 % die mit Abstand höchste Armutsgefährdungsquote im Bundesländervergleich hat (zum Vergleich: Berlin liegt mit 20 % auf Platz 2, Baden-Württemberg auf Platz 15 mit 13,5 %), steht vor der Herausforderung, die starke soziale Spaltung in der Stadt zumindest aus dem Bildungssystem herauszuhalten. In Hamburg findet an den weiterführenden Schulen zwar ähnlich wenig soziale Durchmischung statt und die Stadtteilschulen müssen ungleich mehr Ressourcen für Inklusions- und Integrationsleistungen aller Art leisten als die Gymnasien, jedoch macht die Hansestadt dies durch hohe Investitionen in sein Bildungssystem und damit auch in Schulsozialarbeit möglich. Als – Stand 2024 – reichstes Bundesland Deutschlands mit einem Bruttoinlandsprodukt von 79.176 € pro Kopf kann es sich diesen Kostenpunkt allerdings problemlos leisten. Vor allem in sozioökonomisch schwächeren Regionen benötigen Gesamtschulen bessere finanzielle Ausstattung und innovative Ansätze, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen.
Zur Autorin
Zara Zerbe hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt und arbeitet als freie Autorin in Kiel. Dort ist sie Mitherausgeberin des Literaturmagazins „der Schnipsel“ und hostet den Podcast „Literarisch, Solidarisch“ mit Hatice Açıkgöz und Dara Brexendorf. Sie arbeitet zu Umwelt-, Bildungs- und Zukunftsthemen sowie zu sozialer Gerechtigkeit. 2024 ist ihr Debütroman „Phytopia Plus“ im Verbrecher Verlag erschienen. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar.