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pdf Die Schönheit von Gesetzestexten Beliebt

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Das neue Übergangsverfahren von der Grundschule auf die weiterführenden Schularten und seine politische Entstehung

Ein Beitrag von Sebastian Kölsch

„Über alle weiteren Bildungswege nach der Grundschule entscheiden die Erziehungsberechtigten.“ So beginnt nach wie vor § 88 des Schulgesetzes. Hörte man an dieser Stelle auf zu lesen, wäre also alles noch konform mit Artikel 15 unserer Landesverfassung, der den Eltern das „natürliche Recht“ einräumt die „Bildung ihrer Kinder mitzubestimmen“. Allein, der Paragraph hört an dieser Stelle nicht auf.

Danach beginnen nämlich die Einschränkungen der Entscheidung der Erziehungsberechtigten. Spätestens am Ende von Absatz 4 des neugefassten § 88 ist dann nämlich klar, dass insbesondere bei einer Anmeldung am Gymnasium nun gar keine Entscheidung mehr bei Erziehungsberechtigten liegt. Es müssen allerlei Dokumente vorgelegt werden und eine mächtige Schranke regelt den Eintritt in diese Schulart, die auf den schönen Namen „pädagogischer Gesamtwürdigung“ hört.

In der Realität wurde damit das Rad um 13 Jahre zurückgedreht. Bis 2012 gab es eine verbindliche Grundschulempfehlung, die den Zugang in die unterschiedlichen Schularten regelte. Mit deren Abschaffung waren freilich nicht alle einverstanden gewesen. Aber ob das Wegfallen der elterlichen Bevormundung zwingend als der Untergang des baden-württembergischen Bildungssystems bezeichnet werden sollte, darf zumindest bezweifelt werden.

Die nackten Zahlen

Ein Blick in die Statistik hilft ungemein. Zum Schuljahr 2023/2024, dem jüngsten in der Schulstatistik veröffentlichten Jahrgang, entschieden sich etwas über 20% der Eltern trotz Gymnasialempfehlung dafür, ihr Kind auf eine andere Schulart zu schicken. Andersrum waren lediglich 10% der am Gymnasium angemeldeten Kinder ohne entsprechende Empfehlung dorthin geschickt worden. Es waren also die Eltern, die die inflationäre Zahl der Gymnasialempfehlung von circa 50% regulierten und die Gymnasien vor einem Überlaufen bewahrten.
Doch die gefühlte Wahrheit wiegt heute in der öffentlichen Diskussion leider häufig schwerer als Fakten. Und so wurden interessierte Gruppen nicht müde, gebetsmühlenartig die fehlende Verbindlichkeit zu geißeln. Dass bei einer stringenten Befolgung der Empfehlung die Gymnasien viel voller gewesen wären, spielte in der öffentlichen Diskussion keinerlei Rolle.

Der Kompromiss der grün-schwarzen Landesregierung für die neue Grundschulempfehlung, die euphemistisch als lediglich „verbindlicher“ bezeichnet wurde, für das Gymnasium allerdings nichts anderes als verbindlich ist, wurde am 2. Mai verkündet. Man hätte bei den Verhandlungen gerne Mäuschen spielen wollen, um den politischen Kuhhandel dieser beiden in Bildungsfragen recht diametral gegenüberstehenden Regierungspartner mitzuerleben. Zäh müssen sie jedenfalls gewesen sein, ließ man sich doch von Anfang 2024, als alle bereits wussten, dass und wann man G9 wieder einführen würde, bis Anfang Mai Zeit, die Grundzüge und sogar einige Details auszubaldowern. Jedenfalls hatte dann das Kultusministerium viel zu wenig Zeit, um alles detailliert zu regeln: Das Schulgesetz musste geändert werden, damit abgestimmt mussten die Verwaltungsvorschriften teilweise grundständig erneuert werden, es musste die Kompetenzmessung für einen flächendeckenden Einsatz ausgebaut werden und die Informationen für Schulleitung, Lehrkräfte und Eltern ausgearbeitet werden. Dabei musste etwas auf der Strecke bleiben.

Kompass 4: durchgefallen

Kompass 4 ging so dermaßen in die Hose, dass sogar Ministerin Schopper öffentlich eingestand, dass hier nachgesteuert werden müsse. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt bereits 97.000 Kinder der vierten Klassen orientierungslos in diese zentrale Testung gestolpert und einem Versagens-Erlebnis ausgeliefert, das sie tief verunsichert hatte. Es ist übrigens genau dieses demotivierende Moment, das zurecht Hauptargument ist, doch bitte kein Kind ohne entsprechende Empfehlung auf eine zu anspruchsvolle Schule zu schicken. Kompass 4 schaffte es, über 90% der Viertklässlerinnen und Viertklässler zu suggerieren, dass sie in Mathematik nicht reif fürs Gymnasium sind. Knapp 50% ihres ein Jahr älteren Vorgänger-Jahrgangs war allerdings in der Grundschulempfehlung noch Gymnasialreife beschieden worden.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte man erwarten können, dass zwei Dinge passieren:

  1. Weil Kompass 4 offiziell als gescheitert erklärt wurde, in diesem Jahr also keine objektive Säule im neuen Grundschulempfehlungs-Reigen vorhanden sein würde, hätte man für das laufende Jahr eine Ausnahme von der Verbindlichkeit machen müssen. Denn der Koalitions-Kompromiss war ja ausgehebelt worden.
  2. Eine grundlegende Diskussion über die Qualität des Mathematik-Unterrichts in der Grundschule hätte angestoßen werden können. Immerhin gab es auch Stimmen, die den Mathematik-Teil von Kompass 4 als eigentlich schaffbar angesehen hatten.

Was jedoch passierte: Nichts.

So ist Politik eben...

In der zweiten Lesung der Schulgesetz-Änderung im Landtag, nach der alle Änderungen wie geplant und ohne Ausnahmeregelung für das laufende Schuljahr beschlossen wurden, konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Kinder eigentlich Nebensache wären und Ideologie oder bestenfalls die Erinnerung an eine längst vergangene Schulrealität des letzten Jahrtausends Haupttreiber der Diskussion sind.
Während auf dem Weg in den Landtag die Laternenmasten mit Bundestags-Wahlplakaten übersät waren, auf denen eine Partei postulierte, der Staat sei nicht unser Erziehungsberechtigter, vertrat der bildungspolitische Sprecher ebenjener Fraktion im Landtag die Überzeugung, dass eine Verbindlichkeit für alle Schularten die einzige Rettung sei. Der Staat als Erziehungsberechtigter in Sachen Bildung ist dann also offenbar doch machbar.

Nicht zur Sprache kamen:

  • Die Unwägbarkeit eines noch nicht näher definierten Potenzialtests, dem Joker im verbindlichen Zugang zum Gymnasium. Zum Redaktionsschluss dieses Heftes war nur vage bekannt, wie er gestaltet sein würde.
  • Die grundsätzliche Überlegung, wie denn die seit 2010 stabil bei um die 50% liegende Gymnasial-Empfehlungs-Quote zustande gekommen ist, die die eigentliche Ursache für das Überlaufen der Gymnasien war.
  • Die Frage, inwieweit ein landesweit einheitlicher Test sowohl bei Kompass 4 als auch bei der Potenzialmessung ein sinnvolles Instrument sein kann, wenn seit 2004 den Lehrkräften aus guten Gründen sehr freie Hand gelassen wird, wann sie welches Thema im Unterricht in Klasse 3 und 4 behandeln.
  • Die Ursache für das 1993 erfolgte Abschaffen der früheren „Orientierungsarbeiten“ in Klasse 4, sozusagen der Großmutter von Kompass 4 und inwieweit diese Bedenken 30 Jahre später keine Relevanz mehr haben.
  • Der Zweifel, ob es denn so stimmig ist, sich mit einem der durchlässigsten Schulsysteme zu brüsten, trotzdem aber nach Klasse 4 krampfhaft sortieren zu wollen.

Die Besuchertribüne des Landtags an diesem denkwürdigen Mittwoch Ende Januar erlebte stattdessen ein belustigendes Politikschauspiel, bei dem eine bequeme Regierungsmehrheit eine umfangreiche Schulgesetz-Änderung durchpeitschte, bei der Magengrummeln nahezu überall zu vernehmen war – doch es müsse jetzt eben so sein.

Es war das Finale eines Prozesses, der über viele Jahre lief und dessen Startschuss niemand anderer gegeben hatte als zwei Mütter, die beharrlich für die Wiedereinführung von G9 gekämpft hatten. Dieser Sieg der Demokratie ging jedoch fast ein wenig unter in der Debatte und den Argumenten, den bildungspolitischen Statements und den ideologischen Positionen, kurz: In dem Getöse des politischen Alltagsgeshäfts.

Während all dies geschah, saßen übrigens im ganzen Land Grundschul-Lehrkräfte daran, bereits seit Wochen auf Grundlage von etwas zu verfahren, das noch gar nicht beschlossen war. Auch dieser Irrwitz gehört zur Realität dieser Änderung und hat seine Ursache in dem enormen Zeitdruck. Man darf getrost der Meinung sein, dass das alles nicht so richtig stimmig ablief.
Für wen das auch nicht so richtig stimmig ist und für wen dieses Polit-Schauspiel nachhaltigen Auswirkungen haben wird:
Für unsere Kinder.

 

Das neue Übergangsverfahren „NAVi 4 BW“

Zum Halbjahr in Klasse 4 erhalten Eltern ab diesem Schuljahr ein umfangreiches Paket:
Rückmeldung für den weiteren Bildungsweg
Auf diesem Formular sind die berühmten Kreuzchen, für welche Schulart das Kind empfohlen wird. Diese Rückmeldung fasst die Einzel-Bausteine des neuen Verfahrens zusammen und ist am ehesten zu vergleichen mit der bisherigen einfachen Empfehlung
Empfehlung der Klassenkonferenz für den weiteren Bildungsweg
Dieser Bogen stellt die „pädagogische Gesamtwürdigung“ dar, die im Schulgesetz erwähnt ist. Hier steht, welche Schulart die Lehrkräfte empfehlen.
Ein Extra-Dokument für das Ergebnis von Kompass 4 gibt es nicht, das Ergebnis wird in den Übergangsgesprächen offengelegt.
Formular für die Anmeldung zum Potenzialtest
Kinder ohne Empfehlung für das Gymnasium können diese Aufnahmeprüfung ablegen. Die Anmeldung muss vier Tage nach Aushändigung der Rückmeldung für den weiteren Bildungsweg erfolgen.