StartseiteRegionalBaden-WürttembergRückkehr zu G9 in BaWü? Lehrer sind alarmiert und stellen eine Forderung

Sorge vor Überlastung

Rückkehr zu G9 in BaWü? Lehrer sind alarmiert und stellen eine Forderung

Baden-Württemberg / Lesedauer: 5 min

Ein Bürgerforum pürft die Rückkehr zu G9. Die Aussichten dafür stehen gut. Lehrerverbände sehen darin aber eine Gefahr und fordern eine altbekannte Hürde Richtung Gymnasium.
Veröffentlicht:09.11.2023, 14:00

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Vieles deutet darauf hin, dass Baden-Württemberg zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren könnte. Ein Volksantrag der Initiative „G9 Jetzt!“ erfährt breite Unterstützung. Die grün-schwarze Landesregierung hat ein Bürgerforum eingerichtet, das diesen Schritt und dessen Auswirkungen auf das Schulsystem diskutiert.

Wenn G9 kommen sollte, braucht es dann auch wieder die verbindliche Grundschulempfehlung, um die Schülerströme zu lenken? Ein Überblick: 

Worum geht es? 

Kurz nach Regierungsantritt 2011 hat die grün-rote Landesregierung die verbindliche Grundschulempfehlung gekippt. Seitdem zählt allein der Elternwille ‐ wie in allen Bundesländern außer in Brandenburg, Thüringen und Bayern. In Bayern müssen Kinder ohne entsprechenden Notenschnitt zum Probeunterricht mit Prüfungen an die gewünschte weiterführende Schule.

Im Südwesten gibt es etwas mehr Verbindlichkeit, seitdem die Grünen mit der CDU koalieren. Seit 2018 muss die Empfehlung bei der weiterführenden Schule vorgelegt werden, Beratungsangebote für Eltern wurden ausgebaut, auch durch das sogenannte besondere Beratungsverfahren.

Laut Kultusministeriums machen davon vor allem Familien Gebrauch, deren Kind eine Empfehlung für die Haupt-/Werkrealschule haben ‐ jedes Jahr etwa zwei bis drei Prozent. Die Erfahrung zeige, dass sich Eltern in der Regel am Wohl ihres Kindes orientierten, erklärt ein Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne).

Wie sind die Übergangszahlen? 

Neun von zehn Kindern, die auf ein Gymnasium wechseln, haben eine solche Empfehlung. Fast alle anderen haben eine Realschulempfehlung. Bei der Realschule ist dies anders. Gut die Hälfte der Kinder hat eine Empfehlung für diese Schulart, ungefähr je ein Viertel für Werkreal-/Hauptschule und Gymnasium.

An die Gemeinschaftsschule als Schule für alle wechseln in der Regel sechs von zehn Kindern mit Haupt- und Werkrealschulempfehlung, etwa 28 Prozent hatten in den vergangenen beiden Jahren eine Empfehlung für die Realschule und etwa 13 Prozent fürs Gymnasium.

Was würde G9 verändern? 

Eine flächendeckende Rückkehr zu G9 würde dazu führen, dass mehr Familien ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, sagt Gerhard Brand, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Dies werde zulasten von Real-, Gemeinschafts- und beruflichen Schulen gehen. „Das wird diese Schularten schwächen“, so Brand.

Tatsächlich wechseln bislang weniger Kinder aufs Gymnasium als empfohlen. Zum vergangenen Schuljahr etwa hatten mehr als 50 Prozent eine Gymnasialempfehlung, aber nur 45 Prozent folgten dieser.

Wer plädiert für eine verbindliche Grundschulempfehlung?

Starke Befürworter sind der Realschullehrerverband (RLV) und der Philologenverband, der für die Gymnasiallehrer spricht. Politische Unterstützung finden Sie vor allem in der FDP, die bereits zwei Mal einen Gesetzentwurf für eine verbindliche Grundschulempfehlung im Landtag eingebracht hat. Sie abzuschaffen bezeichnete FDP-Bildungsexperte Timm Kern im Oktober im Landtag als „entscheidende bildungspolitische Ursünde der letzten Dekade“. Außer der AfD hat keine andere Fraktion mit der FDP gestimmt.

Auch nicht die regierende CDU, die in ihrem Programm zur Landtagswahl 2021 erklärt hatte: „Wir führen eine verbindliche Grundschulempfehlung ein.“ Die verbindliche Grundschulempfehlung schütze Kinder vor Überforderung, argumentiert die FDP. Das wird sie am Freitag erneut mit dem RLV vortragen. Mit dabei sein wird auch der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser, der 2020 in einer Studie zu dem Schluss kam, dass einheitliche Klassen gerade leistungsschwächeren Kindern dienen. 

Sollte die Empfehlung mit G9 wieder verbindlich werden?

Ja, sagt die CDU. Die weiterführende Schule solle einen Aufnahmetest verlangen dürfen, so Bildungsexperte Alexander Becker. „Denn wir wollen keine Verwerfungen in anderen Schularten und auch nicht, dass das G in G9 für Gesamtschule steht. Eine verbindlichere Lenkung der Schülerströme ist deshalb zwingend notwendig.“

Die meisten Gruppen und Verbände sehen das anders, manche wünschten sich aber eine verbindlichere Beratung der Eltern. Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands, sagt zwar: „Wenn man davon ausgeht, dass unser gegliedertes Schulsystem das richtige ist, muss man über die Verbindlichkeit nachdenken.“

Er fordert aber grundlegende Reformen statt der Einführung von G9: Es brauche eine Schule für alle bis zur Oberstufe, in der Teams aus Lehrern und anderen Experten vor der Klasse stehen, in der Kinder mit Behinderung natürlich dazugehören.

Der Landesschülerbeirat pocht darauf, dass weiter Kinder und ihre Erziehungsberechtigten entscheiden. Sollte G9 flächendeckend eingeführt werden, solle die Grundschulempfehlung „noch effektiver und eindrücklicher an die Eltern kommuniziert wird“, sagt der Vorsitzende Berat Gürbüz. Ähnlich äußert sich der oberste Elternvetreter im Land, Sebastian Kölsch. „Ich bin persönlich ein Fan davon, Eltern zu informieren statt ihnen was vorzuschreiben.“

Verpflichtende Beratungsgespräche seien Eltern aber auf jeden Fall zuzumuten. Das wünscht sich auch VBE-Chef Brand. Denn: „Gerade die Eltern, die diese Gespräche brauchen, kommen nicht.“ Auch Matthias Schneider, Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sagt: „Ein verbindliches Gespräch kann man erwägen.“

Eine Rückkehr zur Verbindlichkeit lehnt die GEW als „rückwärtsgewandt“ ab. „Es gibt keinen Hinweis, dass eine verbindliche Grundschulempfehlung zu besseren Ergebnissen führt.“ Eine verpflichtende Beratung also?

Nein, sagt Schoppers Sprecher. Zwang sei bei einer Beratung nicht zielführend. Man setze auf Information, auch durch den neu eingeführten Leistungstest „Kompass 4“ in den vierten Klassen in Deutsch und Mathe.